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Zu hässlich für die Öffentlichkeit

Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des Betrachters. Umso kurioser daher, dass es angeblich bis ins Jahr 1974 in Chicago ein Gesetz gegeben haben soll, dass es hässlichen Menschen verbot, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Gab es dieses Gesetz also tatsächlich und wenn ja, wieso?

Über diese Bewertung

Ein Gesetz gegen Menschen mit Behinderung

Tatsächlich gab es ab Anfang des 19. Jahrhunderts in verschiedenen US-amerikanischen Städten Gesetze zur Entfernung von Menschen mit Behinderung aus der Öffentlichkeit, umgangssprachlich auch als „Ugly Laws“ bezeichnet. So veröffentlichte die Stadt Chicago etwa im Mai 1881 folgenden Gesetzestext:

Jede Person, die krank, verstümmelt, verkrüppelt oder in irgendeiner Weise entstellt ist, sodass sie ein unansehnliches oder widerliches Erscheinungsbild bietet oder eine ungeeignete Person ist, um sich in oder auf den Straßen, Landstraßen, Durchgangsstraßen oder öffentlichen Plätzen dieser Stadt aufzuhalten, darf sich dort oder darauf nicht öffentlich zeigen.

Bereits zuvor gab es in anderen Städten ähnliche Gesetze. In San Francisco etwa schon im Jahr 1867.

Wie konnte es dazu kommen?

Gründe für die „Ugly Laws“ gab es viele.

Die Gesetze zielten darauf ab, das Stadtbild zu säubern und arme Menschen sowie solche mit sichtbaren Behinderungen aus öffentlichen Räumen zu verdrängen. Sie wurden als störend für die öffentliche Ordnung wahrgenommen, insbesondere in einer Zeit, in der Städte durch Urbanisierung und Migration stark wuchsen. Die damalige Gesellschaft legte großen Wert auf ein ideales Stadtbild, das Fortschritt und Modernität widerspiegelte. Menschen mit sichtbaren Behinderungen oder Krankheiten wurden als unansehnlich betrachtet und galten als Symbol für Armut und sozialen Verfall. Sie wurden als minderwertig angesehen. Die Gesetze sollten dafür sorgen, dass sie aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und unsichtbar gemacht werden, um dem Ansehen der Stadt nicht zu schaden.

Auch sah man die Wirtschaft bedroht. Die Gesetze richteten sich vor allem gegen Bettler und sollten verhindern, dass sie Almosen bekommen, da dies als Belastung für die städtische Wirtschaft und als Bedrohung für das soziale Gefüge angesehen wurde.

Fragliche Auswirkung

Inwieweit die Gesetze tatsächlich umgesetzt wurden und die gewünschten Ergebnisse erzielten, ist jedoch fraglich.

Theoretisch sollten in Chicago alle Personen, die sich nicht an das Gesetz hielten, entweder mit einem Dollar (unter Berücksichtigung der Inflation heute etwa 29 €) oder erst einer Verhaftung und anschließend dem Aufenthalt in einem Armenhaus bestraft werden. Durchgesetzt wurde das aber wohl nur sporadisch. Bestimmte Personen, wie etwa Veteranen oder Arbeiter mit Behinderung wurden oft von der Durchsetzung ausgenommen.

Auch kann nicht genau gesagt werden, ob das Gesetz wirklich dazu geführt hat, dass mehr Leute verhaftet wurden. Zwar wurden in Chicago mehr Leute wegen „Verstößen gegen die Bettelverordnung“ festgenommen: erst einer im Jahr 1882, dann zwei im Jahr 1883 und schließlich 25 im Jahr 1884. Aber es gab schon im Jahr 1880 eine Verhaftung diesbezüglich – und da existierte das „Ugly Law“ noch gar nicht. Die Behörden unterschieden also nicht, ob Verhaftungen bezüglich des „Ugly Laws“ gemacht wurden oder ob ein anderer Grund die Ursache war. Auch gegen sogenannte „Landstreicher“ ging man damals vor – egal ob mit Behinderung oder nicht.

Das späte Ende

Ein erstes Umdenken, das die Rechtmäßigkeit der Gesetze infrage stellte, kam mit Beginn des 1. Weltkriegs auf. Zunehmend kamen Soldaten zurück, die Körperteile verloren hatten oder psychologische Versorgung benötigten. Der 2. Weltkrieg folgte, der Koreakrieg, der Vietnamkrieg. Auch der Einsatz von Aktivist*innen für die Rechte von Menschen mit Behinderung veränderte die öffentliche Denkweise.

Die Gesellschaft begann, Behinderung nicht mehr als etwas zu betrachten, das versteckt werden sollte. Stattdessen wurde der Fokus auf Gleichberechtigung und Akzeptanz gelegt, was den öffentlichen Druck erhöhte, solche Gesetze abzuschaffen. Die „Ugly Laws“ wurden zunehmend als verfassungswidrig angesehen, da sie gegen Grundrechte wie Gleichheit vor dem Gesetz und Meinungsfreiheit verstießen. Gerichtsfälle und rechtliche Auseinandersetzungen trugen dazu bei, diese Gesetze zu delegitimieren.

So fand die letzte dokumentierte Festnahme in Bezug zu den „Ugly Laws“ 1974 in Omaha statt. Ein Polizist nahm einen Obdachlosen mit der Begründung fest, er habe Narben am Körper. Die Staatsanwaltschaft erhob jedoch keine Anklage: Es sei unmöglich, vor Gericht zu beweisen, dass jemand hässlich sei.

Und so wurde das Gesetz auch in Chicago – als letzte Stadt in US-amerika – nach 93 Jahren abgeschafft. Einer der Stadträte, die für die Abschaffung des Gesetzes zuständig war, sagte dazu:

[Das Gesetz] ist grausam und gefühllos. Es ist wie ein Rückfall ins finstere Mittelalter.

Paul T. Wigoda, Stadtrat

Quellen:
Schweik, Susan M.: The ugly laws: Disability in Public, in: NYU Press (2009), Kaveny, M. Cathleen: Autonomy, Solidarity and Law’s Pedagogy, in: Louvain Studies, Bd. 27, Nr. 4, S. 339 – 358 (2002), Coco, A. Phelps: Diseased, Maimed, Mutilated: Categorizations Of Disability and an Ugly Law in Late Nineteenth-Century Chicago, in: Journal Of Social History, Bd. 44, Nr. 1, S. 23 – 37 (2010), Thompson, Dan: Ugly Laws: The history of disability regulation in North America, in: Progress, season-01.2011 (2011), chicagotribune.com (EN), nationalgeographic.com (EN), snopes.com (EN), Inflationsrechner via in2013dollars.com (EN), Währungsrechner via smart-rechner.de

Bildquellen:

  • Screenshot Instagram Facttivation: Facttivation | All Rights Reserved
  • Mann im Rollstuhl wird verhaftet (Symbolbild, mit KI erstellt): IstDasFakt?! Network | All Rights Reserved
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